Verkehrsrecht Info - 06.2023

2.06.2023
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Bußgeldverfahren:

Zugang zu Wartungs- und Reparaturunterlagen des Messgeräts

| Der Verfassungsgerichtshof (VGH) für das Land Baden-Württemberg hat entschieden: Der Betroffene in einem Bußgeldverfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung hat einen Anspruch auf Einsicht in Wartungs- und Reparaturunterlagen des Geschwindigkeitsmessgeräts. Wird ihm dies verwehrt, liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens vor. |

Das war geschehen

Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, als Kraftfahrzeugführer die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 44 km/h überschritten zu haben. Ihm wurde deshalb zunächst mit Bußgeldbescheid und anschließend durch Urteil des Amtsgerichts (AG) eine Geldbuße in Höhe von 160 Euro sowie ein einmonatiges Fahrverbot auferlegt. Während des Bußgeldverfahrens begehrte der Beschwerdeführer die Übermittlung der Ermittlungsakte, der Rohmessdaten sowie der Lebensakte und der Wartungs-/Reparatur-/Eichnachweise des Messgeräts. Die Bußgeldbehörde stellte dem Beschwerdeführer die Ermittlungsakte sowie einige der gewünschten Rohmessdaten zur Verfügung. Eine Einsicht in die Lebensakte und in die Wartungs-/Reparatur-/Eichnachweise des Messgeräts erhielt er nicht.

Amtsgericht und Oberlandesgericht verneinten Anspruch auf Akteneinsicht

Das Amtsgericht lehnte den wiederholten Einsichtsantrag in die o.g. Unterlagen sowie den Antrag auf Übermittlung der 126 Einzelmessdaten mit der Begründung ab, dass die Beweiserhebung als zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich anzusehen sei. Zudem bestehe kein Anspruch auf Beiziehung der Lebensakte sowie auf Bildung eines größeren Aktenbestandes, zumal eine Lebensakte nach den Angaben der Bußgeldbehörde nicht geführt werde. Das Oberlandesgericht (OLG) sah in der amtsgerichtlichen Entscheidung keine Rechtsfehler. Im Hinblick auf die Ablehnung der Beiziehung von Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichnachweisen des Messgeräts habe der Messbeamte als Zeuge angegeben, dass keine eichrelevanten Störungen oder Defekte aufgetreten seien, sodass das AG im Rahmen seiner Aufklärungspflicht nicht verpflichtet gewesen sei, beim Verwender des Messgeräts Nachweise über erfolgte Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe anzufordern, zumal der Messbeamte solche auch verneint habe.

Verfassungsgerichtshof „kassierte“ Urteile

Der VGH: Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens aufgrund der unterbliebenen Einsichtsgewährung in die Wartungs- und Reparaturunterlagen rügt, zulässig und begründet. Das Urteil des AG sowie der Beschluss des OLG verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht auf ein faires Verfahren, indem darin jeweils unter Annahme eines Gleichlaufs der gerichtlichen Aufklärungspflicht mit dem Einsichtsrecht des Betroffenen dessen Zugang zu den Wartungs-/Reparaturunterlagen des Messgeräts abgelehnt wurde.

Recht auf faires Verfahren

Wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) festgestellt hat, folgt aus dem Recht auf ein faires Verfahren grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen. Hierbei handelt es sich nicht um eine Frage der gerichtlichen Aufklärungspflicht, sondern der Verteidigungsmöglichkeiten des Betroffenen. Im Rechtsstaat muss dem Betroffenen die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Dabei wendet sich das Gebot zur fairen Verfahrensgestaltung nicht nur an die Gerichte, sondern ist auch von allen anderen staatlichen Organen zu beachten, die auf den Gang eines Strafverfahrens Einfluss nehmen, demgemäß auch von der Exekutive, soweit sie sich rechtlich gehalten sieht, bestimmte Beweismittel nicht freizugeben. Ein rechtsstaatliches und faires Verfahren fordert daher „Waffengleichheit“ zwischen den Verfolgungsbehörden einerseits und dem Beschuldigten andererseits. Der Beschuldigte hat deshalb ein Recht auf möglichst frühzeitigen und umfassenden Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen und auf die Vermittlung der erforderlichen materiell- und prozessrechtlichen Informationen, ohne die er seine Rechte nicht wirkungsvoll wahrnehmen könnte.

„Waffengleichheit“ für Beschuldigte gegenüber den Verfolgungsbehörden

Der Beschuldigte eines Strafverfahrens bzw. Betroffene eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens hat neben der Möglichkeit, prozessual im Wege von Beweisanträgen oder Beweisermittlungsanträgen auf den Gang der Hauptverhandlung Einfluss zu nehmen, grundsätzlich auch das Recht, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden. Dadurch werden seine Verteidigungsmöglichkeiten erweitert, weil er selbst nach Entlastungsmomenten suchen kann, die zwar fernliegen mögen, aber nicht schlechthin auszuschließen sind. Die möglicherweise außerhalb der Verfahrensakte gefundenen entlastenden Informationen können von der Verteidigung zur fundierten Begründung eines Antrags auf Beiziehung vor Gericht dargelegt werden. Der Betroffene kann so das Gericht, das von sich aus keine sachlich gebotene Veranlassung zur Beiziehung dieser Informationen sieht, auf dem Weg des Beweisantrags oder Beweisermittlungsantrags zur Heranziehung veranlassen.

Quelle | VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.1.2023, 1 VB 38/18, PM vom 16.1.2023


Schadenminderungspflicht:

Restwert: Versicherung hat keinen Anspruch auf „Abwarten“

| Oft schreiben Versicherungen Geschädigte an und appellieren „Verkaufen Sie Ihr beschädigtes Fahrzeug bitte nicht sofort zu dem im Gutachten angegebenen Restwert. Wir können Ihnen sicher ein besseres Angebot vermitteln. Bitte warten Sie unsere Nachricht ab, damit Ihnen keine Nachteile entstehen.“ So geschah es auch in einem Fall des Amtsgerichts (AG) Soest. Dieses hat nun hinsichtlich der Frage Klartext gesprochen, ob sich der Geschädigte daran halten muss. |

Nein so das AG. Solche Schreiben sind für Geschädigte ohne rechtliche Relevanz. Das gilt sogar auch, wenn es vor dem Verkauf des Unfallwagens eintrifft. Denn es gilt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH). Danach muss der Schädiger, will er die Schadenminderungspflicht aktivieren, dem Geschädigten eine Verwertungsmöglichkeit zeigen, die er ohne Weiteres realisieren kann. Auf „Abwarten“ des Geschädigten hat die Versicherung keinen Anspruch.

Quelle | AG Soest, Urteil vom 25.7.2022, 14 C 22/22, Abruf-Nr. 233295 unter www.iww.de


Gewerblicher Verleih:

Sondernutzungsgebühr für E-Scooter zulässig

| Die von der Stadt Köln festgesetzten Sondernutzungsgebühren für den Betrieb von gewerblichen Verleihsystemen für E-Scooter sind rechtmäßig. Das hat das Verwaltungsgericht (VG) Köln entschieden. Damit hat es die Klagen von vier E-Scooter-Betreibern abgewiesen. Einen in diesem Zusammenhang gestellten Eilantrag hat das VG ebenfalls abgelehnt. |

Der Rat der Stadt Köln änderte im Mai 2022 die Sondernutzungssatzung und erließ neue Gebührentarife. Danach können Betreiber von E-Scooter-Verleihsystemen mit Gebühren von 85 bis 130 Euro pro Fahrzeug und Jahr belegt werden. Auf Grundlage der so geänderten Satzung setzte die Stadt Köln Ende Juli 2022 gegen die im Stadtgebiet aktiven Verleiher Gebühren in Höhe von bis zu 450.000 Euro fest. Sie begründete dies unter anderem damit, dass von ordnungswidrig auf Fuß- und Radwegen abgestellten E-Scootern erhebliche Beeinträchtigungen für die Allgemeinheit ausgingen.

Gegen die Gebührenbescheide erhoben vier E-Scooter-Verleiher Ende August 2022 jeweils Klage beim VG. Einer stellte zudem einen Eilantrag. Die Betreiber machen geltend, dass die Gebühren praktisch dazu führten, das Angebot von E-Scootern im Stadtgebiet zu verhindern. Dies widerspreche dem Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz (FaNaG NRW). Zudem seien die Gebühren unverhältnismäßig hoch im Vergleich zu denen für Leihfahrräder und Carsharing-Angeboten.

Dem ist das Gericht nicht gefolgt und hat zur Begründung ausgeführt: Die Gebühren tragen dem Umstand Rechnung, dass es infolge der Verleihsysteme der Klägerinnen immer wieder zu Behinderungen auf Fuß- und Radwegen durch nicht ordnungsgemäß abgestellte oder umgefallene E-Scooter kommt. Ähnliches kommt in Bezug auf Leihfahrräder seltener vor. Zudem leisten sowohl Bike- als auch Carsharing-Angebote einen größeren Beitrag zur Reduzierung des individuellen Autoverkehrs als E-Scooter. Die Gebühren führen auch nicht dazu, dass jegliche Form des E-Scooter-Verleihs unwirtschaftlich wird. Das FaNaG NRW bezweckt nicht den Schutz des spezifischen Geschäftsmodells der Klägerinnen.

Gegen die Urteile steht den Beteiligten die Berufung und gegen den Eilbeschluss die Beschwerde zu, über die jeweils das Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster entscheiden würde.

Quelle | VG Köln, Urteil vom 11.1.2023, 21 K 4871/22, 21 K 4874/22, 21 K 4923/22, 21 K 5019/22, 21 L 1439/22, PM vom 11.1.2023


Fehlende Kraftfahreignung:

Zahlreiche Parkverstöße = Führerschein weg?

| Ein Kraftfahrer, der innerhalb eines Jahres zahlreiche Parkverstöße begeht, ist zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet, sodass ihm die Fahrerlaubnis entzogen werden kann. Das hat das Verwaltungsgericht (VG) Berlin entschieden. |

Ein Autofahrer hatte innerhalb eines Jahres 174 Verfahren wegen Verkehrsordnungswidrigkeiten anhängig. Darunter befanden sich 159 Parkverstöße und 15 Geschwindigkeitsüberschreitungen. Die Behörde hat dem Kläger daher die Fahrerlaubnis aufgrund fehlender Kraftfahreignung entzogen.

Das VG hat dies bestätigt. Auch eine große Zahl lediglich von Bagatellverstößen begründet die mangelnde Fahreignung. Die große Anzahl zeigt, dass der Kraftfahrer offensichtlich nicht willens ist, auch bloße Ordnungsvorschriften, die im Interesse eines geordneten, leichten und ungefährdeten Verkehrs geschaffen sind, einzuhalten, und er solche Vorschriften hartnäckig missachtet, wenn dies seinen persönlichen Interessen entspricht. Besonderes Gewicht haben diese Verstöße, wenn sie, wie hier, an einem bestimmten Ort gehäuft auftreten und der Fahrerlaubnisinhaber damit zu erkennen gibt, dass er seine persönlichen Interessen über das Allgemeinwohl stellt.

Der Autofahrer hatte zwar geltend gemacht, dass die Verstöße möglicherweise von Familienangehörigen begangen worden seien. Das half ihm aber nicht. Das VG: Auch derjenige ist charakterlich zum Führen eines Kfz ungeeignet, der durch zahlreiche ihm zugehende Bußgeldbescheide erfährt, dass Personen, die sein Fahrzeug benutzen, laufend gegen Verkehrsvorschriften verstoßen und nichts dagegen unternimmt.

Quelle | VG Berlin, Urteil vom 28.10.2022, 4 K 456/21, Abruf-Nr. 232803 unter www.iww.de

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