Sorgerechtsmissbrauch:
Impfwunsch einer 15-Jährigen ist besonders beachtlich
| Lehnt die allein sorgeberechtigte Mutter die Impfung einer 15-Jährigen strikt ab, ist dies ein Sorgerechtsmissbrauch, der dem Kindeswohl zuwiderläuft. Das rechtfertigt den Teilentzug der elterlichen Sorge. So sieht es das Oberlandesgericht (OLG) Zweibrücken. |
Die 15-jährige Tochter lebt nicht mehr bei der allein sorgeberechtigten Mutter und möchte dorthin auch nicht zurückkehren. Sie hat seit längerer Zeit den Wunsch geäußert, gegen das Coronavirus geimpft zu werden, was die Mutter aber ablehnte. Das Familiengericht hat auf Anregung des Jugendamts der Mutter die elterliche Sorge in dem Teilbereich des Rechts zur Entscheidung über eine Covid-19 Impfung entzogen und die Ergänzungspflegschaft angeordnet. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Mutter blieb erfolglos.
Im Fall einer Kindeswohlgefährdung, so das OLG, muss das Gericht die erforderlichen Maßnahmen treffen, um die Gefahr abzuwehren, wenn das allein sorgeberechtigte Elternteil hierzu nicht gewillt oder in der Lage ist. Im Fall des OLG bestanden weder Zweifel an der Eignung der Tochter, die Tragweite der Impfentscheidung zu erfassen, noch an der Ernsthaftigkeit, auch künftig den Kontakt zur Mutter abzulehnen. Solange der Konflikt währt, ist nach dem OLG eine Risikoabwägung und eine Entscheidung über die Frage, ob eine Impfung erfolgt, nicht in konstruktiver und kindeswohldienlicher Weise möglich. Die bei der Anhörung der Mutter im Beisein der Tochter abermals geäußerte strikte Ablehnung der Impfung ist ein dem Kindeswohl zuwiderlaufender, nachhaltig ausgeübter Sorgerechtsmissbrauch, der den Teilentzug der elterlichen Sorge gebietet. Die Covid-19 Impfung ist für die Tochter bedeutsam.
Quelle | OLG Zweibrücken, Urteil vom 28.7.2022, 2 UF 37/22, Abruf-Nr. 232783 unter www.iww.de
Sozialrecht:
Trotz Tod der Pflegeeltern keine Vollwaisenrente, wenn die leiblichen Eltern noch leben
| Den Status als Vollwaise i. S. d. Sozialrechts (hier: § 48 SGB VI) besitzt, wer keinen unterhaltspflichtigen Elternteil mehr hat. Das ist bei einem Kind, dessen Pflegeeltern verstorben sind, aber nicht der Fall, wenn die leiblichen Eltern noch leben. Das hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen entschieden. |
Das war geschehen
Der Kläger kam nach der Geburt zu Pflegeeltern. Seine leiblichen Eltern leben noch. Nach dem Tod des Pflegevaters gewährte ihm der beklagte Rentenversicherungsträger eine Halbwaisenrente. Nach dem Tod der Pflegemutter beantragte er erfolglos eine Vollwaisenrente. Seine gegen den Ablehnungsbescheid gerichtete Klage war erfolgreich. Auf die Berufung des Rentenversicherungsträgers hat das LSG das Urteil geändert und die Klage abgewiesen.
Pflegekind ist nicht Vollwaise, wenn leibliche Eltern noch leben
Der Kläger habe keinen Anspruch auf Vollwaisenrente. Dieser setze voraus, dass das Kind keinen Elternteil mehr habe, der ungeachtet der wirtschaftlichen Verhältnisse unterhaltspflichtig sei. In diesem Sinne sei der Kläger kein Vollwaise, da seine dem Grunde nach unterhaltspflichtigen leiblichen Eltern noch lebten.
Da Pflegekinder gegenüber Pflegeeltern nicht unterhaltsberechtigt seien, seien sie zwar mit leiblichen Kindern (und Adoptivkindern) insoweit gleichgestellt, als dass sie grundsätzlich Waisenrente nach dem Tod von Pflegeeltern(teilen) beanspruchen könnten. Die Frage, wann ein Kind Halb- bzw. Vollwaise sei, richte sich aber nur mit Blick auf die unterhaltspflichtigen leiblichen Eltern.
Pflegekinder wären sonst doppelt abgesichert
Zwar könne ein Kind mehr als zwei Elternteile haben (z. B. leibliche Eltern und Pflegeeltern), jedoch nur Vollwaise sein, wenn kein unterhaltspflichtiger Elternteil mehr vorhanden sei. Es entspreche nicht dem gesetzgeberischen Willen, dass Pflegekindern nach Versterben beider Pflegeelternteile sowohl ein Anspruch auf Vollwaisenrente als auch grundsätzlich ein Unterhaltsanspruch gegen die leiblichen Eltern zustehe und sie somit doppelt abgesichert seien.
Denn leibliche Kinder, die in der Herkunftsfamilie gelebt haben, hätten nur Anspruch auf Vollwaisenrente, wenn sie keinen Unterhaltsanspruch gegen einen unterhaltspflichtigen Elternteil geltend machen können, wenn beide dem Grunde nach unterhaltspflichtigen Elternteile verstorben sind.
Quelle | LSG NRW, Urteil vom 14.6.2022, L 14 R 693/20
Umgangsrecht:
Keine Hilfe vom Jugendamt beansprucht: keine Verfahrenskostenhilfe
| Das Oberlandesgericht (OLG) Hamburg hat jetzt klargestellt: Beantragt ein Elternteil in einem Umgangsverfahren Verfahrenskostenhilfe, bevor er eine Beratung oder Vermittlung durch das Jugendamt beansprucht hat, kann diese im Einzelfall wegen Mutwilligkeit abgelehnt werden. Es ist vom Hilfsbedürftigen zu verlangen, dass er die ihm kostenfrei zugänglichen Angebote insbesondere die Vermittlungsbemühungen des Jugendamts wahrnimmt, um sein Ziel wenigstens versuchsweise zu erreichen, bevor er gerichtliche Hilfe in Anspruch nimmt. |
Der Vater hatte die Umgangsregelung jedoch beantragt, ohne darzulegen, dass er das Jugendamt um Vermittlung gebeten hätte oder warum diese Bemühungen aussichtslos sein sollten. Die Uneinigkeit der Eltern erschien dem Gericht überbrückbar.
Quelle | OLG Hamburg, Beschluss vom 18.8.2022, 12 WF 87/22, Abruf-Nr. 231992 unter www.iww.de
Aufenthaltsbestimmung:
Keine Rückführung eines entführten Kindes in die Ukraine
| Das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart hat mit einer aktuellen Entscheidung die Rückführung eines von der Mutter ohne Einverständnis des Vaters aus der Ukraine nach Deutschland verbrachten Kindes abgelehnt. |
Mutter floh mit Tochter aus Odessa
Die gemeinsam sorgeberechtigten und jetzt getrenntlebenden Eheleute lebten bis März 2022 mit ihrer damals einjährigen Tochter in Odessa. Nach mehreren Fliegeralarmen, die die Eltern teilweise mit dem Kind im Auto in einer Tiefgarage verbracht hatten, begab sich die Mutter mit der Tochter ohne Zustimmung des Vaters nach Deutschland, was eine Kindesentführung im Sinne des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) darstellt.
Vater wollte Tochter in die Ukraine zurückholen
Der Vater begehrte daraufhin beim Familiengericht die Rückführung seiner Tochter in die Ukraine. Die Mutter lehnt die Rückführung der Tochter ab, da die Rückführung in ein Kriegsgebiet zu gefährlich sei. Das für Verfahren nach dem HKÜ international und örtlich zuständige Amtsgericht (AG) Stuttgart wies die Anträge des Vaters ab. Mit seiner Beschwerde zum OLG Stuttgart verfolgte der Vater die Rückführungs- und Herausgabeanträge weiter. Hilfsweise beantragte er, dass die Tochter in die Republik Moldau verbracht werden solle.
Oberlandesgericht: Rückführung des Kindes zu gefährlich
Das OLG hat die erstinstanzliche Entscheidung bestätigt und alle Anträge des Vaters zurückgewiesen. Eine Rückführung des Kindes in die Ukraine sei mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden (Art. 13 Abs. 1 b) HKÜ). Die Voraussetzungen dieser Härteklausel lägen bei einer Kindesrückführung in ein Kriegsgebiet vor. Um ein Kriegsgebiet handle es sich bei dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine seit dem 24.2.2022, wie sowohl die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes als auch die aktuelle Medienberichterstattung zeige. Dies gelte auch für die Westukraine einschließlich des Bereichs um Odessa. Es bestehe daher eine konkrete Gefahr für das Leben des noch nicht zwei Jahre alten Kindes.
Auch Ausweichen auf die Republik Moldau keine Option
Eine Rückführung in die Republik Moldau komme ebenfalls nicht in Betracht, da nach dem Grundgedanken des HKÜ und der Rechtsprechung dazu grundsätzlich nur eine Rückführung in das Land des bisherigen Aufenthalts eines Kindes möglich sei. Ausschlaggebend dafür sei, dass in dem Staat, in den das Kind rückgeführt werden solle, umgehend eine gerichtliche (Sorgerechts-) Entscheidung über den weiteren Aufenthalt des Kindes ermöglicht werden solle. Dafür wären die Gerichte der Republik Moldau nicht international zuständig, da das Kind dort nicht seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe.
Ein Rechtsmittel gegen diesen Beschluss des OLG ist nicht gegeben.
Quelle | OLG Stuttgart, Beschluss vom 13.10.2022, 17 UF 186/22, PM vom 18.10.2022